Die wahrscheinlich ersten Reaktionen spätestens auf die klinische Diagnose der Demenz sind Wut, Trauer und alle begleitenden Synonyme wie Frustration, Hilflosigkeit und alles, was dazu gehört. Vor allem scheint uns die Akzeptanz einer solchen Diagnose schwer zu fallen. Warum? Weil ihre Folgen so fürchterlich und unvermeidbar sind. Unser Mangel an Akzeptanz ist im Grunde das Eingeständnis unserer Hilflosigkeit, unseres Verlustes an Kontrolle, gepaart mit der leiser und leiser werdenden Hoffnung, das irgendwie doch noch hinzubekommen. Vielleicht sogar die Erkenntnis, dass wir niemals wirklich Kontrolle über unser Leben hatten.
Angesichts der Diagnose Demenz fühlen wir uns oft wie kleine Kinder und wünschen uns nichts sehnlicher, als dass das Ganze irgendwie aufhört und wir aus einem schlechten Traum erwachen. Schweißgebadet zwar, aber froh, dass es nur ein Traum war. Eigentlich hätten wir gern eine wie auch immer geartete Instanz, die uns die Last abnimmt und sagt: Es werde Licht. Das heißt: wir wollen den Kontrollverlust, aber eben einen, der es für uns besser macht.
Und ja, es sieht manchmal oder auch oft so aus, als wäre es gar nicht so schlecht, irgendwo da oben einen gütigen Vater sitzen zu haben, oder von mir aus auch eine gütige Mutter, die die Dinge in die Hand nimmt und für uns regelt. Wenn wir schon keine Kontrolle (mehr) haben, dann wollen wir wenigstens Kontrolle von woher auch immer, Hauptsache Kontrolle … und zwar eine, die alles so macht, dass wir nicht leiden müssen.
Und ab spätestens hier helfen uns keine Ratgeber, die uns erzählen, wie wir Menschen mit Demenz pflegen, wo wir Gelder von der Pflegekasse her bekommen, oder wie wir Menschen mit Demenz mehr oder weniger sinnvoll beschäftigen, um uns weismachen zu können: alles wird irgendwie gut.
Ab diesem Moment hilft uns nur eines: Augen auf und durch … mit all unserer Angst, unserer Kleinlichkeit, unserem Flehen, unseren Bitten und unserem Betteln um Gnade. Wir müssen da durch … irgendwie. Es bleibt uns nichts anderes übrig. Die alberne Alternative wäre Selbstmord aus Angst vor dem Tod.
Und am Besten erscheint es wirklich, sich zusammenzureißen und sich den Erfahrungen stellen, so schmerzhaft sie auch sein mögen. Der Sand verschwindet nicht, wenn man den Kopf hinein steckt.
Die Psychiaterin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hat aus Begegnungen und Gesprächen mit Sterbenden fünf Phasen des psychischen Erlebens im Zusammenhang mit dem Tod herausgearbeitet und definiert:
- Nicht-Wahrhaben-Wollen,
- Zorn,
- Verhandeln,
- Depressionen,
- Annahme.
Unabhängig vom Bezug dieser Phasen zum Thema Sterben und Tod ist es naheliegend und erkennbar, dass diese verschiedenen Phasen auch bei anderen lebensverändernden und negativ besetzten Erlebnissen des Menschen in mehr oder weniger konsequenter Form auftreten. Hierzu kommt vor allem, dass diese Phasen nicht nur bei unmittelbar Betroffenen, sondern auch bei deren Angehörigen mehr oder weniger ausgeprägt auftreten.
Es erscheint nur menschlich und naheliegend, dass wir solche Ereignisse einfach nicht akzeptieren wollen. Ein unausweichliches Ereignis, welches uns aus dem gewohnten Leben reißt, dieses völlig ins Gegenteil verkehrt und uns vor neue und meist unangenehme Erfahrungen zu stellen droht, die wir im Grunde versuchen ,zu vermeiden, ist meist ein ziemlicher Schlag unter die Gürtellinie.
Die Frage: »Warum ich (meine Mutter, mein Vater, mein Kind etc.)?«, entbehrt zwar jeder Logik, aber das Leben ist nicht logisch und fair und steht auch nicht in Verhältnis zu unseren Taten, welches Gutes mit Gutem und Schlechtes mit Schlechten vergilt. Wer sein Leben lang Gutes getan hat, kann nach bisherigen Erkenntnissen nicht auf Milde bei Krankheiten, Alter und Tod hoffen. Ebenso gibt es keine wie auch immer geartete Instanz, die böse Menschen irgendwann zur Rechenschaft zieht. Eine Hölle existiert nur auf Erden und oft genug schaffen wir uns diese Hölle selbst.
Wenn aber das Unvermeidbare ohnehin weh tut, dann muss man es nicht noch schlimmer machen.
Ja, ich weiß, das klingt alles irgendwie nach Kalendersprüchen oder esoterischem Zeug. Aber: wer kann bezeugen, dass das Leben fair ist? Gibt es nach wissenschaftlicher Erkenntnis irgendwo eine geheime Kraft außerhalb von jedem von uns, die für Gerechtigkeit sorgt? Zeige mir diese Kraft und ihr Wirken und ich widerrufe dieses Kapitel. Bis dahin aber können wir gemeinsam überlegen, wie wir aus dieser Misere herauskommen. Und Nein, nicht in dem Sinne, dass wir irgendetwas Geheimnisvolles zaubern, um die Demenz der Vergangenheit angehören zu lassen. Demenz ist derzeit nicht heilbar, so wünschenswert das auch ist. Demenz geht den Erkenntnissen nach mit irreversiblen Veränderungen im Gehirn vor sich, die eben irreversibel sind, und Gehirntransplantationen sind derzeit weder bekannt, noch möglich und daher noch nicht in Mode.
Also was bleibt uns? Eigentlich nur zwei Alternativen: Wir leben schlecht mit der Demenz oder wir leben gut mit ihr. Und glaube mir, das ist keine Wahl zwischen Pest und Cholera, sondern eine Wahl zwischen Sinnlosigkeit und Sinn.
»Wenn wir eine Tragödie erleiden, haben wir zwei Möglichkeiten: Entweder verlieren wir die Hoffnung und entwickeln selbstzerstörerische Gewohnheiten oder wir nutzen die Herausforderung, um innere Stärke zu entwickeln.« Dalai Lama
Das Argument, die Demenz als etwas Sinnvolles zu sehen, sei angesichts ihrer Auswirkungen nichts als eine alberne Verhöhnung der davon unmittelbar und mittelbar Betroffenen, ist verständlich und nachvollziehbar. Das klingt logisch, aber wie schon bemerkt: Logik ist keine Eigenschaft des Lebens an sich. Logik ist eine Form der Herstellung von Widerspruchsfreiheit in Beschreibungen unserer Welt, die vermutlich nur uns Menschen gegeben ist. Und wer zum Teufel noch mal ist eigentlich verantwortlich für unsere individuellen und kollektiven Beschreibungen der Welt, wenn nicht wir selbst? Wir erfinden und erzählen diese Geschichten, aus denen unsere Welt aufgebaut ist. Das ist unser Erbe und unsere Fähigkeit. Also können wir diese Fähigkeit auch nutzen, statt an ihr zugrunde zugehen.
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