Was ist Mitgefühl?
Vorsicht, Weitsicht, Nachsicht. Dazu noch eine angemessene Portion Behutsamkeit im Umgang mit anderen Menschen … mögen sie dement sein oder nicht.
Wesenskern der buddhistischen Theorie und Praxis ist das Mitgefühl. Mitgefühl wiederum ist die Grundlage der vielfältigen Arbeit mit Menschen, insbesondere mit Sterbenden und Menschen, die nicht (mehr) in der Lage sind, die Erfordernisse der heutigen Gesellschaft zu erfüllen, sowie deren Angehörigen, die alle täglich den Spagat zwischen wohlmeinender Hilfe und Hilflosigkeit erleben.
Zu diesen Menschen gehören konsequenterweise auch solche, die mit der Diagnose Demenz konfrontiert werden, ob als unmittelbar oder mittelbar Betroffene.
Mitgefühl erlaubt einen Blick auf das Thema Demenz, der vielleicht dem einen oder anderen Angehörigen helfen kann, seine Betroffenheit vom Thema und dem Leid, was es in der Regel für ihn und andere bringt, in etwas Hilfreiches und vielleicht sogar Bereicherndes zu verwandeln.
Das hört sich für den Ungeübten vielleicht auf den ersten Blick ziemlich absurd an und ist es vielleicht auch. Vielleicht aber auch nicht … und nur darauf kommt es an.
Mitgefühl beim Thema Demenz kann sich in vielerlei Hinsicht äußern.
Erlaube dem anderen, schwach zu sein. Erlaube dem anderen, ängstlich zu sein. Erlaube dem anderen, es gut zu meinen. Erlaube dem anderen, unwissend zu sein. Erlaube dem anderen, zu sein, wie er ist. Deine Erlaubnis zeigt dem anderen, dass Du ihn liebst und verstehen willst, selbst wenn er Dich nicht zu lieben scheint und Du ihn nicht verstehst. Jedes Beharren auf Vollkommenheit zeigt nur, dass Du selbst nicht vollkommen bist und damit Adressat Deiner Abneigung gegen Unvollkommenheit.
Du kannst Mitgefühl auch ersetzen durch den in christlich geprägten Ländern bekannten Begriff Nächstenliebe. Liebe Deinen Nächsten, wie Dich selbst, ist ein geflügeltes Wort und wie oft stellst Du die Frage: Kann ich jemanden lieben, der böse, unvollkommen, eben anders ist, genauso wie mich selbst? Die Antwort auf diese Frage liegt in der Gegenfrage: Kannst Du Dich lieben, wenn Du böse, unvollkommen, eben anders bist? Lautet die Antwort JA, dann bist Du bereit zum Mitgefühl. Lautet die Antwort hingegen NEIN, dann kannst Du Dein Mitgefühl für Dich und auch andere kultivieren durch eine simple, aber effektive Übung.
Diese Praxis ist eine der grundlegendsten Übungen in der buddhistischen Theorie und Praxis. Manche behaupten sogar, sie sei die einzige Übung, die man braucht. Wie dem auch sei, ich versuche im Folgenden zu zeigen, wie das Ganze funktioniert und warum.
Der Name der Übung ist: Die Meditation vom Geben und Nehmen, auf tibetisch TONGLEN.
Lass Dich bitte von der Unbekanntheit und Einfachheit dieser Übung nicht täuschen, sie ist in der Tat sehr effektiv, vorausgesetzt, man hat sie verstanden und so verinnerlicht, dass sie zum Bestandteil des Lebens geworden ist.
Wo immer Du auch bist, was immer Du auch tust, was immer Du auch fühlst oder denkst, wir sind uns sicher einig darüber, dass Du atmen musst. Mit dem Wissen um diese Tatsache beginnen wir mit dem ersten Teil der Übung:
Atme goldenes Licht ein und atme schwarzen Rauch aus.
Mach es einfach mal jetzt. Also jetzt. Nein, nicht nachher, wenn Du diesen Abschnitt zu Ende gelesen hast, sondern jetzt jetzt.
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Das ist zunächst alles. Verbinde nun mit dem goldenen Licht etwas wirklich Gutes und mit dem schwarzen Rauch etwas Schlechtes. Das Gute kann zum Beispiel speziell Gesundheit sein und das Schlechte eine Krankheit. Da Du ohnehin zum Guten und Schlechten ein wie auch immer geartetes Gefühl hast, kannst Du das Gute und Schlechte durch alles, was Du willst, ersetzen. Du nimmst Gutes an und gibst Schlechtes ab. Abschließend kannst Du den Begriff Gutes mit Glück verbinden und den Begriff Schlechtes mit Leid. Fazit: Glück rein, Leid raus. Und erstaunlicherweise ist das das Streben aller Wesen: Alle wollen glücklich sein und Leid vermeiden. Glück rein, Leid raus:
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Du wirst zunächst bemerken, dass sich Dein Atmen in Geschwindigkeit und Intensität verändert, im Gegensatz zu Deiner herkömmlichen Atmung, aber das ist nur ein Nebenbeieffekt, in etwa so, wie eine wohlschmeckende Speise auch Deinen Magen füllt und Dir Nährstoffe zuführt.
Das ist die Phase der sogenannten Selbstheilung. Und klar, dass Dich einige solche Atemzüge nicht von einer schweren Krankheit heilen, sollte offenkundig sein. Keine bisherige Disziplin der Wissenschaften wird das Gute, das Du einatmest, und das Schlechte, das Du ausatmest, messen können.
Was aber ist dann der Sinn dieser Übung? Der Sinn besteht ganz einfach darin, dass Du Vertrauen bekommst in Deine Fähigkeit, alles … in gewisser und angemessener … Weise zu beeinflussen. Und jeder weiß, wenn er an etwas Gutes oder Schönes denkt, macht das mit ihm etwas anderes, als wenn er an etwas Schlechtes oder Hässliches denkt. Das kennen wir aus jeder Phase unseres Lebens. Schönes macht froh und Hässliches macht traurig. Wir sind einfach gestrickt und so funktionieren wir. Kommt Dir jemand richtig blöd, wirst Du ebenfalls ein bisschen blöd. Kommt Dir jemand liebevoll entgegen, so fällt es in der Regel schwer, nicht auch nett zu sein.
Das führt uns zur zweiten Phase der Meditation des Gebens und Nehmens, die Phase der Heilung von anderen. Ja, ich weiß, diese Übung soll nur unter Anleitung von ausgebildeten Lehrern gemacht werden, sie gehört zu den geheimnisvollsten und machtvollsten Übungen, und was weiß ich, was alles passieren kann, wenn Du das einfach so für Dich machst. Ich garantiere Dir aber, das sind Ammenmärchen. Grundlage dieser ganzen und oft falsch verstandenen Warnungen ist ganz einfach, dass die Übung nicht wirkt, wenn Du sie nicht verinnerlicht hast. Du kannst sie also machen. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass Du weiterhin atmest und keine Ahnung hast, worum es dabei geht. Keine Ahnung ist so ziemlich das häufigste Vorkommnis im Leben der Menschheit. Keine Panik. Wenn unbeaufsichtigtes Atmen zwangsläufig zum Tode führen würde, wäre die Welt wahrscheinlich leer.
Also, hier die Phase zwei: Atme schwarzen Rauch ein und atme goldenes Licht aus.
Mach es einfach mal jetzt. Also jetzt. Nein, nicht nachher, wenn Du diesen Abschnitt zu Ende gelesen hast, sondern jetzt jetzt.
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Bist Du verstorben? Nein? Dann machen wir weiter. Du siehst, Du atmest weiter, nur die Vorstellung dessen, was Du ein- und ausatmest, ändert sich, indem Du goldenes Licht und schwarzen Rauch vertauschst. Und ebenso wenig wie Du Angst haben muss, in der ersten Phase die Umwelt zu verpesten, musst Du nun keine Angst haben, Dich mit dem schwarzen Rauch zu vergiften. Jeder gemütliche Holzofen wirkt hochgradig schädlicher (»Reichenfeinstaub« by Jörg Kachelmann).
Was ist nun der Sinn dieser Umkehrung der Phase eins der Meditation des Gebens und Nehmens? Wunderkinder wissen spätestens an dieser Stelle: Zuerst nimmst Du Glück auf und gibst Leid ab und später, wenn Du kräftig genug bist und über einen gewissen Überschuss an Glück verfügst, teilst Du dieses Glück mit anderen, die es nötig haben, und nimmst deren Leid an ihrer Stelle auf. Du wirst zum mitfühlenden Wesen, dass anderen hilft, glücklich zu sein, auch wenn es dabei ab und an etwas schwarzen Rauch schlucken muss.
TONGLEN ist meine Hauptpraxis seit über dreißig Jahren und ich weiß nicht genau, wer dadurch alles etwas mehr Glück hatte als sonst, aber ich kann sagen: Es hat noch keinem geschadet. Immerhin. Es vergeht eigentlich kaum ein Atemzug ohne diese Übung. Und ja, manchmal denke ich nicht bewusst daran, aber in Stresssituationen ist das zumindest eine hervorragende Übung, um wieder herunterzukommen.
Eines noch. Du bist selbstverständlich auf der Höhe der spirituellen Zeit und willst gleich loslegen, um diese Übung mit einem Menschen mit Demenz zu machen. Dazu folgendes: Bitte verinnerliche diese Übung zunächst soweit, dass Du beide Phasen spontan hinbekommst. In Bezug auf einen anderen wende bitte nur die erste Phase der Selbstheilung an, gerade bei einem Menschen mit Demenz, der genug mit sich zu tun hat. Sollte dieser Mensch sich in einer Phase der Demenz befinden, in der Erklärungen zur Praxis nicht (mehr) verstanden werden, dann kannst Du das Konzept ganz einfach erläutern und mit ihm zusammen machen:
Wir riechen an der Blume und pusten behutsam die Kerze aus.
Gerade in Phasen der Angst und damit verbundenen Aufregung bei Menschen mit Demenz führt das oft zur mehr oder weniger umgehenden Beruhigung.
Wenn dieser Mensch nicht mehr weiß, was eine Blume und eine Kerze theoretisch waren, dann stelle praktisch eine Blume und eine Kerze hin … und bleibe bitte dabei. Deine Anwesenheit ist nicht so wichtig wegen der Brandgefahr, gut, das auch, aber mehr, damit der andere Dich spüren kann und weiß: Ich bin nicht allein. Und nein, die Kerze muss nicht brennen. Menschen mit Demenz sind nicht doof. Das Langzeitgedächtnis, zu dem meist auch Blumen und Kerzen gehören, funktioniert zusammen mit dem Körpergedächtnis noch recht lange. Und weißt Du was? Auch Menschen mit Demenz atmen gern.
Geben und Nehmen.