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Narrativium

Hast Du schon mal vom geheimnisvollen Element Narrativium gehört? Ja? Dann gehörst Du mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur Fangemeinde von Terry Pratchett und weißt genau, wovon ich rede. Solltest Du jedoch völlig unerwarteterweise noch nie vom Narrativium gehört oder gelesen haben, dann wird es Zeit, Dir eine Geschichte über Geschichten zu erzählen …

Nach Terry Pratchett handelt es sich beim Narrativium ungefähr um …

… das häufigste Element auf der Scheibenwelt, obwohl es nicht in der Liste der üblichen fünf Elemente enthalten ist: Erde, Feuer, Luft, Wasser und Überraschung. Narrativium sorgt dafür, dass alles in einer Geschichte richtig läuft. Wenn zum Beispiel ein Junge zwei ältere Brüder hat, ist es wahrscheinlich, dass sie sich auf eine Suche nach irgendetwas begeben. Der erste wird stark sein und an seiner Dummheit scheitern, der zweite wird klug sein und an seiner Schwäche scheitern, und der jüngste Bruder wird dann keine andere Wahl haben, als letzter auszuziehen, um ziemlich erfolgreich zu sein und seiner armen Familie Ruhm und Reichtum zu bringen.

Dieses Phänomen ist auch als narrative Kausalität bekannt. Drachen spucken Feuer, nicht etwa, weil sie Asbestlungen haben, sondern weil Drachen das eben so machen. Helden gewinnen nur, wenn sie in der Unterzahl sind, und Dinge, die nur eine äußerst geringe Chance von eins zu einer Million haben, gelingen erstaunlicherweise oft. Die Anwendung dieses Phänomens scheint einigen lose formulierten Gesetzen zu unterliegen, die aber irgendwie keiner so richtig kennt, bzw. kommt es … wie immer … auf die Definition an.

Das klingt erstaunlicherweise wie im richtigen Leben. Und ich habe Dich gewarnt, wir reden hier ziemlich häufig von Geschichten.

An dieser Stelle möchte ich im Übrigen eine dringende Empfehlung zur Lektüre der Scheibenweltromane von Terry Pratchett loswerden. Warum? Oh, da gibt es einige Gründe. Der Hauptgrund besteht darin, dass die Scheibenweltromane von einem der liebevollsten Geschichtenerzähler des Universums geschrieben wurden und auch für Menschen mit Demenz geeignet sind, je nach Fähigkeit zum Selbstlesen oder Vorlesen, sowie für Angehörige.

Der andere Grund besteht darin, dass Terry Pratchett seit seinem 59. Lebensjahr am Benson-Syndrom litt, einer der Alzheimer-Erkrankung sehr ähnlichen neurodegenerativen Erkrankung, und sieben Jahre später 2015 an deren Folgen verstarb. Somit dürfte gerade Terry Pratchett als Indiz für die Fehlerhaftigkeit der Annahme gelten, eine rege geistige Tätigkeit schütze vor Demenz. Und wenn sogar der König der geistreichen Fantasy dement werden konnte, dann rette sich, wer kann …

Aber immerhin hat er in dieser Phase noch mehr Bücher geschrieben, als viele andere in ihrem ganzen Leben, und kann somit auch hier mit einem gängigen Vorurteil aufräumen, nämlich dem der Annahme, an Demenz erkrankte Menschen seien nicht mehr wirklich brauchbare Zeitgenossen und eigneten sich höchstens noch zum Abstellen auf dem Balkon eines Pflegeheimes am Rande des Universums.

Bleiben wir beim geheimnisvollen Narrativium.

Wer Menschen mit Demenz … mehr oder weniger … kennt, weiß um ihre unglaubliche Fähigkeit, kleine Ereignisse in spontanen Situationen zu Bestandteilen von teilweise umfangreichen Geschichten über ihr Leben zu machen. Das hindert Menschen mit Demenz natürlich nicht daran, bei anderen Ereignissen diese ebenso zu vergeschichten und gegen frühere Bestandteile früherer Geschichten auszutauschen. Konsistenz und Widerspruchsfreiheit spielen da überhaupt keine Rolle.

Diese Tatsache der fehlenden Konsistenz und Widersprüchlichkeit verleitet Angehörige oft dazu, die Geschichten von Menschen mit Demenz nicht (mehr) ernst zu nehmen und ihnen entsprechend wenig zuzuhören. Nicht selten wird mit dem Geschichtenerzähler über die Wahrheit der Geschichte oder einzelner Bestandteile gestritten bis aufs Messer.

Zunächst ist dazu zu sagen, dass über die Wahrheit einer Geschichte ausschließlich der Geschichtenerzähler bestimmt und nicht der Zuhörer. Dieser kann zwar sagen: die Geschichte sei unwahr und interessiere ihn daher nicht. Über deren Wahrheit entscheiden jedoch kann nur der Geschichtenerzähler. Diese Tatsache ist in der Regel, will heißen: im normalen Leben, auch jedem klar. Kein Zuschauer eines Schauspiels würde den Schauspielern unterstellen, sie seien infame, hinterhältige oder zumindest bedauernswerte Lügner, weil ihre Geschichte in Wahrheit gar nicht wahr und damit erstunken und erlogen sei.

Was macht eine Geschichte eigentlich? Sie wirkt. Sie wirkt unabhängig von ihrem Inhalt immer auf die eine oder andere oder auch ganz andere Art und Weise. Jede Geschichte macht etwas mit dem Zuhörer. Und an dieser Stelle beginnt der Job des Zuhörers … die Reflexion über das Erzählte. Die Wahrheit spielt dabei weniger eine Rolle, als wir von Menschen mit Demenz erwarten. Wahrheit ist eben auch nur eine Geschichte, nämlich die von der Übereinstimmung mit unseren Geschichten über die Welt. Was nicht mit unseren Geschichten über die Welt übereinstimmt, qualifizieren wir als unwahr. Kommt diese Unwahrheit in Form eines offenkundigen Märchens oder Witzes daher, sind wir großzügig und nachsichtig, weil wir wissen, der Erzähler möchte uns etwas mit der Geschichte sagen. Kommt die Unwahrheit in Form einer offenkundigen Lüge daher, vielleicht noch gepaart mit der Absicht, uns übers Ohr zu hauen, werden wir angemessen sauer und verbitten uns diese Lügen.

Im Falle der Geschichten von Menschen mit Demenz jedoch versagt dieser spezielle und in gewissen Fällen auch sinnvolle Unterscheidungsmechanismus und führt uns im dümmsten Fall zur Gewalt gegenüber dem Menschen mit Demenz, weil wir darauf bestehen, dass er die Wahrheit sagt und seine Geschichten so erzählt, wie wir sie kennen (wollen). Das kann fatale Folgen haben. Zum Beispiel kann ein Gespräch zwischen Ehepartnern, von denen eine Person die Diagnose Demenz bekommen hat, in einen veritablen Streit ausarten, weil die vergessliche Person etwas erzählt, und die Person, die die Wahrheit ganz genau kennt und verteidigt, eben die Wahrheit hören will. Solche Gespräche enden oft in entweder Belehrungen, so sei das alles gar nicht gewesen, oder in betretenem Schweigen … gern auch, wenn andere Personen anwesend sind.

Diesem Effekt kann man recht einfach entgegentreten: Nimm Dir ein Blatt Papier und einen Stift, oder was immer Du zum Schreiben verwenden möchtest, erinnere Dich an eine Begebenheit aus Deiner … gern auch jüngsten … Vergangenheit und schreibe Deine Erinnerungen dazu auf. Lass einen Monat ins Land ziehen und mache das gleiche, aber ohne vorher auf die vorherige Aufzeichnung zu schauen. Das kannst Du mehrmals machen. Irgendwann vergleichst Du die Geschichten. Du wirst in den meisten Fällen feststellen: je mehr Einzelheiten Du beschrieben hast, desto mehr Fehler erkennst Du in Deiner Darstellung. Du Lügner! Oder bist Du schon dement? Oder beides? Rette sich, wer kann!

Hoffnungslos hoffnungslos wird es, wenn Du diese Aufzeichnungen von jemandem überprüfen lässt, der dabei war. Und wenn dieser auch noch seine Aufzeichnungen erstellt und mit Deinen vergleicht, habt ihr entweder einen sehr lustigen Abend oder aber es knallt gehörig. Ihr habt die Wahl.

Wenn wir verstehen, dass erst das Narrativium einer Geschichte den Sinn verleiht, dann brauchen wir bei Menschen mit Demenz keine Wahrheit zu suchen, sondern können versuchen, den Sinn hinter ihren Geschichten zu erkennen. Und dieser Sinn bringt uns dem Verständnis und dem Menschen mit Demenz näher, nicht die Wahrheit.

Eine Ersatzrealität ist kein Ersatz für Realität, sie ist ebenso real.