Wer kennt sie nicht, diese Geschichten, um die man lieber einen großen Bogen macht? Komische, suspekte Leute, die uns einerseits völlig hilflos erscheinen, und andererseits eine Angst einjagen, der wir völlig hilflos ausgeliefert sind. DEMENZ! Gleich nach Krebs das Schreckgespenst unserer Zeit.
»So will ich nicht leben! Da fahre ich lieber mit dem Auto gegen eine Mauer! Ich will meinen Angehörigen nicht zur Last fallen. Um Gottes Willen! Nein!«
Menschen mit der Diagnose Demenz – oder auch in anderen reversiblen Lebensendzuständen, die man mit – bis zu völliger – Hilflosigkeit gleichsetzt, fahren im Übrigen sehr selten mit Autos gegen Mauern. Vielleicht liegt es daran, dass in solchen Zuständen ein Auto und dessen Handhabung so ziemlich zum Letzten gehört, um was man sich eigenständig kümmern kann, während man andererseits in der Regel vorher nicht bereit ist, heldenmütig zu sagen: »Ok, jetzt gehöre ich langsam zur Risikogruppe XY, da will ich mal vorbeugend dem Ganzen ein schnelles Ende bereiten.«
Wie immer ist Realität das, was nicht weggeht, auch wenn man nicht daran glaubt.[mfn]Philip K. Dick[/mfn]
Insofern können wir derartige Reaktionen getrost in das Reich der Übersprunghandlungen verweisen und uns auf die Tatsachen konzentrieren.
Und wenn wir uns die Tatsachen zu Demenz ansehen und nur ein wenig recherchieren, müssen wir erkennen: So viele abgesicherte Tatsachen sind da gar nicht bekannt … bis auf die Tatsache: unheilbar.
Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V. definiert in ihrer wirklich empfehlenswerten Abhandlung »Demenz. Das Wichtigste« (ISSN 2364–9348) die Demenz wie folgt:
»Das Hauptmerkmal der Demenz ist eine Verschlechterung von mehreren geistigen (kognitiven) Fähigkeiten im Vergleich zum früheren Zustand.«,
und fügt zum Thema der Ursachen auch gleich ernüchternd hinzu:
»Rund 80 % aller Demenzen werden durch Krankheiten des Gehirns hervorgerufen, bei denen aus teilweise noch unbekannten Gründen Nervenzellen allmählich verloren gehen (neurodegenerative Krankheiten).«
Also handelt es sich bei Demenz ganz allgemein um den Verlust von kognitiven Fähigkeiten, aller Wahrscheinlichkeit nach aufgrund des Verlustes von Nervenzellen, über deren Ursache mehr oder weniger bekannt ist. Und weiter:
»Eine Demenz entsteht, wenn ausgedehnte Abschnitte der Hirnrinde, die für kognitive Funktionen, Verhalten oder Persönlichkeit zuständig sind, durch Krankheiten geschädigt werden.«
Was nützen diese Informationen nun den Angehörigen beim Umgang mit dem Thema und vor allem mit Mama, die verrückt geworden ist? So unangenehm es klingt und ist: eigentlich nichts … bis auf die irgendwie auch nicht so ganz beruhigende Pille, dass es irgendwann zu Ende geht. Aber bis dahin …
Bevor wir weitergehen, muss festgestellt werden: Unsere Gesellschaft ist absolut nicht auf den Umgang mit diesem Thema vorbereitet. Wie auch? Derartige Themen sind nach wie vor Tabu oder lediglich, aber immerhin schon, Randthemen.
Unsere Gesellschaft braucht für nicht nur dieses Verständnis eine umfassende Transformation in eine Gesellschaft, die den Begriff auch wirklich abbildet.
Diese Transformation muss von jedem einzelnen Menschen ausgehen, der verstanden hat, dass ohne Menschlichkeit keine Gesellschaft existieren kann. Ein Haufen von Menschen, die täglich aneinander vorbeileben in einem gegenseitigen Überbietungswettbewerb, sind deshalb nicht schon eine Gesellschaft.
Aber es gibt tatsächlich Hoffnung: Die Menschheit entwickelt sich.
Demenz ist – unabhängig von ihren bisher bekannten physischen Ursachen und Begleiterscheinungen – immer auch eine Form der Änderung bis hin zum weitgehenden Verlust der Beschreibungen der Welt. Wir leben durch Geschichten. Geschichten lassen unsere Welt entstehen und bestehen. Jede Ansicht, jede Meinung, jede Überzeugung ist eine Geschichte über uns. Dass wir unsere Geschichten für mehr oder weniger unabhängig vom Geschichtenerzähler halten, ist ein Irrtum, über den uns die Demenz aufklären kann. Demenz ist derzeit nicht heilbar. Mit Demenz kann und muss man umgehen und sie als Änderung der Beschreibungen der Welt anerkennen. Im Alter und auch bei Demenz werden die Beschreibungen der Welt nach und nach unwichtig. Es erscheint daher angemessener, diese Änderungen der Beschreibungen der Welt zu akzeptieren, um sie als neu zu integrieren, als das Unmögliche zu versuchen, nämlich die Demenz wegzudiskutieren oder die Beschreibungen der alten Welt aufrechterhalten zu wollen gegen den Willen und das Vermögen der Menschen, in deren Leben Demenz eine wichtige Rolle spielt. Das Wichtigste bei Demenz sind Empathie, Zuhören, Verständnis und Behutsamkeit. Bei Demenz gilt eine einfache Regel: Die Demenz gibt den Takt vor.
Das Thema Demenz ist zwar seit der letzten Jahrtausendwende immer mehr Thema auch in der Gesellschaft, aber unabhängig von der erst jungen Forschung zur Demenz und ihren vielfältigen Erscheinungsformen gibt es immer noch kein eigenständiges Berufsbild des Demenzbegleiters.
Gerade Angehörige sind mit Demenz in der Familie meist hoffnungslos überfordert und versuchen, die Begleiterscheinungen mehr oder weniger erfolgreich irgendwie zu stemmen. Meist landen Menschen mit Demenz in Pflegeheimen, auch und vor allem aufgrund der Überforderung der Angehörigen. Wenn ein Mensch mit Demenz ohnehin ein Pflegefall ist, ist das sicher eine mehr oder weniger gute Wahl. Angesichts der Tatsache aber, dass sowieso nur ca. 25% der Pflegebedürftigen in angemessenen Pflegeheimen leben und der Rest von der Verwandtschaft irgendwie durch den Rest des Lebens begleitet wird, muss die Frage gestellt werden, ob ein spezielles Pflegeheim der richtige Ort ist für Menschen mit Demenz ohne ausgewiesenen Pflegebedarf. Pflegeheime sind oftmals eben auf die körperliche Pflegebedürftigkeit ausgerichtet und für eine – leider, leider – meist nur rudimentäre soziale Begleitung.
Tatsache ist, dass in Pflegeheimen die soziale Begleitung zu kurz kommt. Das liegt an unangemessenen Personalschlüsseln, an schlechter Bezahlung für diese harte Arbeit und nicht zuletzt an einer im Grunde asozialen Politik, die das Thema Demenz heute noch weitgehend ignoriert. Zum schlechten Beispiel habe ich in meiner Heimatstadt vergeblich nach einer Wohngemeinschaft ausschließlich für Menschen mit Demenz ohne tiefgreifenden Pflegebedarf gesucht: Fehlanzeige. Das muss sich ändern … unbedingt.
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