Unser scheinbar festgefügtes Zeitempfinden ist in Wahrheit ein zartes Pflänzchen. Schon die kleinste Störung kann uns in den unendlichen Kosmos der Zeitlosigkeit katapultieren. Obwohl solche Momente gar nicht so selten sind, bemerken wir sie kaum, weil wir uns immer wieder ziemlich schnell fangen, indem wir uns an die Zeit erinnern. Uns an die Zeit erinnern …?
Tatsächlich ist unser scheinbares Wissen um die Zeit ein Konstrukt aus Beschreibungen unserer Einteilung von Zeit mittels Uhren. Das ist eigentlich schon alles, was wir über das Phänomen Zeit wissen. Gehen wir ans Eingemachte und forschen ein wenig im Bereich der Theoretischen Physik, merken wir ziemlich schnell: wir sind nicht allein mit unserem Unwissen über die Zeit:
»Von allen Hindernissen, die einer gründlichen Durchdringung der Existenz im Wege stehen, taucht keines erschreckender auf als die ›Zeit‹. Die Zeit erklären? Nicht ohne die Existenz zu erklären. Existenz erklären? Nicht ohne die Zeit zu erklären. Die tiefe und verborgene Verbindung zwischen Zeit und Existenz aufzudecken, um unser Fragenquartett auf sich zu schließen, ist eine Aufgabe für die Zukunft.« John Archibald Wheeler
Wie kann uns die Erkenntnis, dass wir im Grunde nichts über die Zeit wissen, helfen in Bezug auf Demenz?
Unser Zeitempflinden ist keine angeborene Fähigkeit, sondern beruht auf Beschreibungen der Welt, die wir von Kindesbeinen an anerzogen bekommen haben. Das Gleiche gilt für alle Beschreibungen der Welt. Ein Kleinkind empfindet keine Zeit bis zu dem Moment, in dem die Eltern damit beginnen, ihrem Kind ihre erlernten Definitionen der Zeit anzuerziehen und es auf diese zu konditionieren. Unser Zeitempfinden ist also eine Konditionierung. Manche Psychologen würden es als Prägung während der sensiblen Lebensphase bezeichnen, aber die Unterscheidung ist für unser Thema irrelevant, da sie selbst auf mehr oder weniger willkürlichen Definitionen beruht. Beiden liegt eine tiefgreifende Beeinflussung (durch andere Menschen) zugrunde und nur das soll an dieser Stelle zählen.
Ein Menschenleben lässt sich in Bezug darauf in drei Phasen unterscheiden: Wir kommen ohne Beschreibung der Welt auf diese und lernen während unseres Lebens ihre verschiedene Beschreibungen, welche jedoch immer vom Kontext unserer Kultur abhängig sind. Mit zunehmendem Alter ändern sich diese Beschreibungen und beginnen im fortgeschrittenen Alter zu verschwimmen, während sie spätestens in der Sterbephase keine Bedeutung mehr haben: Ein Kind weiß noch nichts über die Welt, ein heranwachsender Mensch lernt vieles über die Welt, ein erwachsener Mensch glaubt, alles über die Welt zu wissen. Ein alter Mensch weiß irgendwannn, dass die Beschreibungen der Welt nicht die Welt sind, und einem Sterbenden sind die Beschreibungen der Welt langsam aber sicher ziemlich egal.
Stehen diese Phasen nun im Kontext der sogenannten Normalität, erscheinten sie uns mehr oder weniger folgerichtig. Bleibt nun aber die Phase des Nichtwissens um die Beschreibungen der Welt vom Kindesalter an erhalten oder tritt die Phase des Vergessens im Zusammenhang mit der Diagnose Demenz auf, interpretieren bzw. definieren wir sie als nicht der Norm entsprechend und weisen ihr unsere Definitionen von Krankheit zu. Und Krankheiten versuchen wir zu heilen, was bedeutet, wir versuchen mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln einen von uns als Norm definierten Zustand herzustellen bzw. wiederherzustellen. Das ist das ganze Geheimnis.
Menschen mit Demenz haben ein anderes Zeitempfinden wie sogenannte normale Menschen. Warum das im Einzelfall so ist, ist eigenlich völlig egal. Es ist einfach so. Ein Mensch mit Demenz braucht vor allem keine Zeitdefinition wie ein normaler Mensch, denn er lebt in einer anderen Normalität, in einer anderen Realität. Und wenn man genau hinschaut, wird man bemerken, dass ihn das meistens nicht stört. Gestört wird durch die Demenz im Grunde das Empfinden der normalen Menschen, weshalb diese alles dafür tun würden, um einen Normalzustand wiederherzustellen, den es tatsächlich nicht gibt.
Mit diesem Wissen können wir das Thema Zeit & Demenz nun etwas anders angehen als gewöhnlich. Anstatt nämlich vergeblich zu versuchen, einen Normalzustand wiederherzustellen, indem wir mit schwindender Hoffnung Biografiearbeit leisten (schon der Begriff Arbeit ist hier fehl am Platz), oder ständig versuchen, Erinnerungen wecken, die nicht unsere sind, oder Kinderspiele spielen, oder Bälle hin und her werfen oder alte Filme schauen, um demente Menschen (oder uns?) vom schweren Schicksal abzulenken, können wir damit beginnen, demente Menschen als das zu akzeptieren, was sie sind: Menschen, die in einer anderen Zeit in einer anderen Realität leben und dabei immer noch Menschen sind, die wir lieben und leben lassen können, wie sie sind.
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